Nach vielen Jahren Erfahrung in Zusammenarbeit mit deutschen Chören, Orchestern, Musikschulen
und Musikhochschulen stelle ich (zusammen mit leitenden Chor- und OrchesterdirigentInnen) fest: die
relative Solmisation, wenn diese über das Kindesalter hinaus gepflegt wird, fördert nicht das
innere Hören, die Tonvorstellung und die nötige Differenzierung zwischen den verschiedenen
Tonarten. Sie führt vielmehr zur Verwirrung und zur Angst vor dem Blattsingen und -lesen.
Als John Curwen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England seine Tonic Sol-fa Methode
entwickelte (auf der die Kodaly-Methode basiert) tat er dies als Prediger, um Gemeinden
zum Singen zu animieren: ”First designed as an aid to beginners, Tonic Sol-fa was mistakenly
regarded by its extreme exponents as superior to standard notation in its own right. […] It is now
seen to offer distinct advantages when employed purely as an ancillary device in the early
stages of learning to read from notes. […]”. Klarer als in diesem Zitat, in einem Artikel
vom New Grove zu „Tonic Sol-fa” zu finden, kann es nicht ausgedrückt werden.
Wir haben mit Generationen von deutschen Musikern zu tun, die auffallend schlechter
als deren Nachbarn von Blatt singen und lesen. Es ist allgemein bekannt und wird immer
bemängelt, dass Chöre hierzulande, - von Laien bis zu Profis - mehr Probenzeit brauchen
als ihre französischen, englischen, amerikanischen, italienischen usw. Kollegen. Dies
gilt genauso für die Orchester.
Wenn „Tonic Sol-fa” oder die darauf basierenden Methoden systematisch unterrichtet
wird, führt es zu einer viel komplizierteren und unüberschaubareren Art, vom Blatt zu
lesen. Interessantes Repertoire beinhaltet Modulationen. In der relativen
Solmisation, wo jede Tonika Do heißt, werden manche Töne mit zwei Funktionen und
zwei Namen (und zwei verschiedene Handzeichen rechts und links) versehen. Dies
führt irgendwann ad absurdum!
Wer die absolute Solmisation früh genug praktiziert, lernt verschiedene Tonarten
voneinander zu differenzieren, was zu facettenreichen und sensiblen Interpretationen
führt. Das Lesen in verschiedenen Schlüsseln wird besser gemeistert. So wird die
Aneignung neuen Repertoires viel einfacher und schneller möglich. Die Relation
zwischen Tönen wird auf andere Art behandelt (do-fa ist nicht gleich mi-la). Vorzeichen
werden nicht „vernachlässigt” sondern aus Klarheit und Einfachheit nicht gesungen, was
nicht heißt, dass sie nicht beachtet werden (jeder Sänger/Musiker
differenziert z.B. zwischen h und b).
Es ist also an der Zeit, dass in Deutschland das System „überholt” wird.
Am meisten Sinn macht es, das Blattsingen in einer holistischen Methode (ggf. mit
der nötigen Stimmbildung) im Rahmen einer Analyse der Literatur und ihrer Stilistik
zu praktizieren. Wunderbare Chorsätze vom Mittelalter über die Renaissance und Barock
bis zur Moderne bieten sich dafür an. Blattsingen wird zum Spiel und Musiker können spielen!
Camille van Lunen
Sopranistin und Komponistin
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