Geboren 1957 in Amsterdam, verbrachte van Lunen ihre Jugend in verschiedenen Ländern
Europas. Ihren musikalischen Werdegang begann sie mit der Bratsche, später studierte
sie Gesang und Komposition in Den Haag und Köln, wo sie auch heute ansässig ist. In ihren
Werken, die sich durch Lebendigkeit und klangliche Vielfalt auszeichnen, stehen häufig
soziale Themen der Gegenwart im Fokus. Ihre Werke sind beim Furore Verlag
veröffentlicht. Beim diesjährigen Komponistinnen Festival in Tübingen wird sie am
Samstag, den 7. Oktober 2023 um 16 Uhr an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Unter
dem Titel „Und heute...? Komponistinnen und Musikerinnen im zeitgenössischen
Musikbetrieb” richtet das Festival den Blick auf die aktuelle Situation und
hinterfragt die Rolle von Frauen in der heutigen Musikindustrie. Die Diskussion
wird umrahmt von der Uraufführung von Camille van Lunens Zyklus „DANSES” für
hohe Stimme und präpariertes Vibraphon.
Johanna Schiller: „Wie sehen Sie die
aktuelle Situation von Komponistinnen und Musikerinnen im Musikbetrieb?”
Camille van Lunen: Die allgemeine Situation hat sich in den letzten Jahren
verbessert. Doch was sagen die Statistiken? Wie viele Werke von Komponistinnen
werden durchschnittlich von Deutschen Berufsorchestern aufgeführt: Der Wert
lag 2019/20 bei 1,9%, aus einer Studie von Melissa Panlasigui: „Women in
High-Visibility Roles in German Berufsorchester.” Es ist bedauerlich!
„Welche Maßnahmen sollten Ihrer Meinung nach ergriffen werden, um die
Sichtbarkeit und Anerkennung von Komponistinnen und Musikerinnen zu verbessern?”
Es ist dringend notwendig, die Veröffentlichung von Informationen über
Komponistinnen und ihre Werke zu unterstützen und zu erweitern. Das bedeutet, dass
mehr Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, in Büchern (einschließlich Lehrbüchern)
erscheinen müssen, Studien, Listen und Kataloge erstellt werden müssen, um das
Schaffen von Komponistinnen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In
vielen Bibliotheken sind die Werke von Komponistinnen entweder gar nicht vorhanden
oder es fehlen wichtige Informationen wie z. B. die Besetzung der gelisteten Werke. Wie
können dann Dramaturg*innen, Dirigent*innen, Lehrer*innen usw. bei der Suche nach
Repertoire und Programmierung darauf zugreifen? Der Notstand beginnt bereits beim
Lehrmaterial für den Musikunterricht in den allgemeinen bildenden Schulen, in
Musikschulen bis hin zu Musikhochschulen. Der Notenbestand in Bibliotheken besonders
beim Rundfunk, in Opernhäusern usw. müsste so vervollständigt werden, dass nicht
mehr davon gesprochen werden kann, dass es keine Werke von Komponistinnen gibt. Warum
werden Werke von Komponistinnen bis heute selten in den sogenannten Kanon aufgenommen? Es
sollten darüber hinaus viel mehr Frauen in Schlüsselpositionen kommen: als
Redakteurin, Dramaturgin, Intendantin, Musik-managerin. Es soll auch in jedem
Konzert ein zeitgenössisches Werk aufgeführt werden, abwechselnd von Komponisten
und Komponistinnen!
„Welche Erfahrungen haben Sie persönlich gemacht, wenn es da-rum geht, als Komponistin
in der Musikbranche Fuß zu fassen und erfolgreich zu sein? Was sind ihrer Meinung nach
die wichtigsten Faktoren für den Erfolg einer Komponistin oder Musikerin im heutigen Musikbetrieb?”
Um erfolgreich zu sein, muss man sehr gut vernetzt sein und sich gut „verkaufen” können, was
natürlich keine Garantie für Qualität in der Kunst ist. Man muss verlegt, aufgeführt und
gehört werden, Kompositionswettbewerbe gewinnen.
„Gibt es erfolgreiche Projekte oder Initiativen, die als Beispiele für eine positive
Veränderung dienen können?”
Das sind zum Beispiel Wettbewerbe für junge Musiker*innen, wie der Lied-Wettbewerb des
Tübinger Festivals, in denen nur Werke von Komponistinnen auf dem Programm stehen, oder
auch Interpretationen von Werken von Komponistinnen z. B. bei Jugend Musiziert. Es wäre
angebracht, dass auch andere namhafte Institutionen dem Beispiel des Deutschen
Symphonie-Orchesters Berlin folgen und vermehrt Werke von Komponistinnen in ihr
Programm aufnehmen. Auch die Oper Wuppertal ist hier vorbildlich: Unter der Leitung
von der neuen Intendantin Rebecca Rota wird in jeder Saison eine Oper einer Komponistin
mit ins Programm aufgenommen. Ich glaube, dass man unbedingt nach neuen Konzertformaten
suchen muss. Das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung seines Chefdirigenten Markus
Stenz führte das Konzept des „3. Akts” als bedeutenden Programmpunkt ein, der mehr als nur
eine einfache Zugabe darstellte. Dieser besondere Akt sollte das Publikum überraschen und
seine Neugier sowie Entdeckungsfreude wecken. Neue Konzertformate heißt übrigens auch, nach
neuen Konzertorten, neuen Uhrzeiten (Warum nicht Nachkonzerte oder mit Party danach?), neuem
Publikum zu suchen, weil alte Formen und Formate die heutige Welt nicht mehr
repräsentieren, in Parität und Diversität.
Das Interview führte Johanna Schiller
Podiumsdiskussion Tübinger Musikfest
Samstag, den 7. Oktober 2023, 16 Uhr „Und heute...? Komponistinnen und Musikerinnen im aktuellen
Musikbetrieb” u. a. mit Renate Matthei und Camille van Lunen. Mit der Uraufführung des
Zyklus „DANSES” für hohe Stimme und präpariertes Vibraphon von Camille van Lunen
Ort: Pfleghof, Schulstraße 2, Eintritt frei
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