Lost in translation - Durch Musik und Rhythmen vereint
Ein Projekt mit Flüchtlingen im Rahmen des Festivals ACHT BRÜCKEN - Musik für Köln 2015 zum Thema „Musik und Politik”


Ausgerollt auf dem Boden liegt eine große Rolle Papier. Darauf wird eifrig gemalt, geschrieben, in wunderschönen Schriften und Sprachen. „TRÄUME” hat Anne Kussmaul, Musikerin und Musikvermittlerin angesagt, dazu packt sie ihre Geige aus und spielt Faurés „Après un rêve”.
Denise Bodenstein, durch ein musikalisches Karnevalsprojekt mit den Flüchtlingen verbunden, hilft: „Ali, du warst doch Händler im Libanon, was ist denn dein Traum jetzt?” Ali: „Tajer”, auf Arabisch: Händler (daraufhin erzählt er eine lange Geschichte in gebrochenem Englisch: die vielen Probleme im Libanon, die syrischen Flüchtlinge, die Mafia, die sein Geschäft zerstört hat). „Tajer” wird auf allen möglichen Registern wiederholt und rhythmisiert. Neben die wunderschöne Schrift male ich auch: 5 wackelige Linien, Rhythmen, einige Noten. Dies wird das Ostinato unseres Stücks sein. Auf der anderen Seite sitzen Semhar, Habtom und Brahan aus Eritrea. Semhars Traum: zur Schule gehen, Bildung. „Timerti Ideli kemehar”, auf Tigrinya. Sie singt mit einer dunklen gebrochenen Stimme, einige Bluenotes? „Ja, das klingt so richtig” sagt sie auf Italienisch (sie ist mit ihrer kleinen Tochter über Lybien und Italien geflohen). Habtom und Brahan möchten die Kinder, ihre Familie zu sich holen: „Ane missedekaje”. Die Kinder werden abgebildet, die Worte gesungen, fast geschrieen: Ein Aufruf im Falsett! Und schon hat Brahan sein Handy auf dem Papier neben der Zeichnung der Kinder niedergelegt: Da sind sie, seine drei Kinder und seine Frau. Abends hat mir Anne Kussmaul den vierten Traum als Audio-Datei geschickt. Sheriff aus Nigeria singt: „Happy people, Ja! Je!” Alles passt zusammen. Diese vier Traum-Stimmen sind zwar einfach, aber sie sind voller Sehnsucht, voller Aktualität, sie leben.
„Tajer Ali” ist am nächsten Tag nicht mehr einverstanden: „Tajer”, immer „Tajer”… langweilig. Ich verspreche ihm, seine Stimme zu ergänzen, und da hilft uns Marco Grawunder, Dozent an der Deutschen Sporthochschule Köln, der unser Team vervollständigt. Ali hat Marco erklärt, dass er Geld möchte, und das ist auf Arabisch: „Massari”. Dazu eine Geste und blitzende Augen! Mit Marco wird für jeden Traum eine symbolische Geste gesucht und herumexperimentiert, Anne baut ein „Break” ein, entwickelt eine kleine Dramaturgie. So endet unsere vierte Begegnung in der Kartäusergasse.
Jeden Tag sehen wir neue Gesichter: die beiden Cecilas aus Nigeria, die am Anfang mit so viel Freude gesungen haben, sind nicht mehr gekommen und Semhar, die gestern für uns gekocht hat (traditionelle Fladen mit Linsen), ist auch ab Donnerstag nicht mehr da. Dafür ist bei der nächsten Begegnung Arin, der begabte Sas-Spieler aufgetaucht. Arin ist Kurde, Jeside und stammt aus Irak. An seinem Sas fehlen einige der Saiten und der Steg ist aus Papier. Er spielt eifrig und singt dazu, einige stimmen ein, es folgen mehrere Melodien aufeinander, sehr rhythmisch, voller Melismen. Nachmittags sind wir in der Kölner Philharmonie zu einer Führung eingeladen. Für mich ist es faszinierend zu sehen, wie das würdevolle Gebäude mit seiner besonderen Aura und die Führung von Dr. Nicolette Schäfer auf jeden Einfluss hat.
Und so bringt jeder Tag neue Überraschungen. Am Feiertag befinden wir uns vor dem geschlossen Tor des Kartäuser-Gemeindezentrum. Einzige Lösung: Über das Tor bwz. den Zaun klettern - was für ein symbolisches Ereignis. Gut, dass die Polizei nicht vorbeifährt oder von ängstlichen Nachbarn gerufen wird.
Bis zur Präsentation innerhalb des Festivals Acht Brücken müssen wir zittern: Arin, unser Sas-Spieler, ist verschwunden. Dabei trägt er als Solist eine sehr wichtige Partie. Als er endlich ans Handy geht, kommt die Sprachgrenze zwischen uns. Wo? Wann? Schlussendlich Happyend: Arin hat die Philharmonie doch wiedergefunden und kommt 10 Minuten vor der Aufführung an. Genau richtig, um als letzter seinen tiefsten Wunsch auszusprechen:
Ich möchte…Musiker werden…Philharmonie!

Camille van Lunen
Sopranistin und Komponistin

Weitere Informationen: http://www.achtbruecken.de/urbokune/interventionen/
Anne Kussmaul: www.annekussmaul.com
Marco Grawunder: www.spielraum-smt.de



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